Irrtümer in unserem Denken über Konflikte

Weil wir den Sinn von Konflikten nicht verstehen, machen wir sie zu Problemen

Wir wollen ein Leben jenseits von Konflikten führen. Oft denken wir, dass in funktionierenden Beziehungen, gleich, ob im beruflichen oder privaten Zusammenhang, keine Konflikte auftauchen dürfen – und wenn doch, dann zumindest keine schwerwiegenden. Wir haben Angst vor Konflikten und versuchen, sie zu umgehen; wir wollen mit ihnen nichts zu tun haben. Leidvollerweise tun wir das auch, nach dem der Konflikt bereits geboren wurde. Den Konflikt an dieser Stelle (nach dem er zu Tage getreten ist) vermeiden zu wollen, trägt jedoch erst recht zu seinem Auswachsen bei.

Auf diese paradoxe Art mit Konflikten umzugehen, wird sich kaum ändern, so lange wir die Welt auf herkömmliche Art begreifen. Auch (und gerade) im Zusammenhang mit Konflikten bedarf es eines Denkens, das davon ausgeht, dass alles, was wir brauchen, bereits vorhanden ist. Es bedarf einer Haltung, die in jedweder Erfahrung Fülle sieht.

Vermutlich sind Konflikte schlicht unvermeidlich. Auch wenn wir eines schönen Tages innerlich völlig befriedet sein sollten, wird es zwischen zwei oder mehr Menschen (oder auch in uns selbst) zur Kollision von Vorstellungen darüber kommen, wie wir unsere Bedürfnisse am besten (vielleicht eher: am liebsten oder am blindesten) erfüllen können. Vielleicht, wenn uns die Erfüllung unserer Bedürfnisse mehr und mehr bewusst gelingt, sind unsere Konflikte weniger getragen durch Rechthaben oder Rache. Dennoch – wo (frei denkende) Menschen zusammenkommen, werden unterschiedliche Ansichten, Meinungen, Standpunkte und Strategien aufeinandertreffen.

1. Wir denken, der Auslöser unseres Fühlens sei die Ursache.

Wir denken, das Verhalten unseres Gegenübers sei die Ursache dafür, dass wir uns gerade ‚schlecht‘ fühlen1. Insofern sind wir der Überzeugung, dass Konflikte (der Schmerz, den wir verspüren) ausschließlich mit unserem Gegenüber zu tun haben und von ihm verschuldet sind.
Tatsächlich löst unser Gegenüber in uns lediglich aus, was an Verletztheit bereits vorhanden ist. Diese Wunden tragen wir häufig schon seit unserer frühsten Kindheit (und vielleicht auch schon länger) in uns. Unser Gegenüber erinnert uns daran, ohne dass uns dieser Zusammenhang bewusst wäre.
Um zum Ende eines Konfliktes beizutragen, ist es daher hilfreich, den Unterschied zwischen Ursache und Auslöser zu kennen – und sich mit den Konsequenzen daraus zu beschäftigen.
(All das bezieht sich ebenfalls auf jene Gefühle, die wir ‚gut’ nennen (siehe dazu auch Punkt 3). Auch in diesem Zusammenhang ist unser Gegenüber nicht die Ursache sondern der Auslöser für unser Fühlen; unabhängig davon, ob wir das, beispielsweise in Augenblicken der Verliebtheit, anders wahrnehmen.

2. Wir denken, dass die Situation, die der Auslöser für einen Konflikt ist, wichtiger sei, als das, worauf der Konflikt zeigt.

Der Auslöser des Konflikts (die Situation, die in uns Ärger auslöst), ist lediglich die Spitze des Eisberges. Niemals, in keinem einzigen Konflikt, geht es um das, was den Konflikt ausgelöst hat. Viel mehr liegen einem Konflikt unerfüllte Sehnsüchte und Bedürfnisse zugrunde. Das ist möglicherweise eine tiefe Sehnsucht nach Kontakt, danach in den eigenen Intentionen gesehen oder im augenblicklichen Schmerz gehört zu werden … Wenn wir uns darauf einlassen können, danach zu schauen und uns vom Auslöser (der Eisbergspitze) nicht ablenken lassen, können wir wahre Wunder des Miteinanders erschaffen.
Haben wir das verstanden und können es leben, lässt sich das Problem, zu dem sich der Konflikt auszuwachsen droht, unmittelbar beenden (siehe Punkt 4).

3. Wir denken, dass es tatsächlich so etwas gibt, wie ‚schlechte‘ Gefühle, Gefühle also, die wir um jeden Preis vermeiden müssten.

Wir sind so versessen darauf, Gefühle, die wir als ‚gut’ beschreiben, zu konservieren und im Gegenzug alles, was sich ‚schmerzhaft‘ (und damit ‚schlecht‘) anfühlt so schnell als möglich aus unserem Erlebnisfeld zu entfernen.
Jenseits unserer Vorlieben und unseres Denkens darüber, was gut und was schlecht ist, sind schmerzhafte Gefühle weder das eine noch das andere. Sie sind einfach. Und wenn wir sie als Hinweise auf Sehnsüchte und Bedürfnisse nehmen, die im Augenblick nicht erfüllt sind, bleiben wir handlungsfähig.
„Ich denke, das Ziel im Leben ist nicht, immer glücklich zu sein, sondern all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen. Was auch immer sich in uns offenbart, es ist das Leben, das sich darin zeigt und es ist immer ein Geschenk, sich damit zu verbinden.“ (Marshall B. Rosenberg)

4. Wir verwechseln den Konflikt mit dem Problem (das jedoch erst entsteht, weil wir den Konflikt missverstehen).

Weil wir Angst vor Konflikten haben, versuchen wir sie zu vermeiden. Das ist jedoch nicht nur kontraproduktiv, es ist schlicht unnötig. Wie auch immer wir „Konflikte“ definieren, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass ein Konflikt immer eine Möglichkeit zur Veränderung und zum Wachstum beinhaltet, mag es nicht leicht sein, ihn zu lösen, doch es sollte nicht schwer sein, ihn auszuhalten. Was es uns in diesem Zusammenhang so schwer macht, sind die Gedanken, die Geschichten, die wir um den Konflikt herum auftürmen. Es sind Gedanken, die der Angst entspringen, denn sie sind allesamt auf die Zukunft gerichtet. Diese angstmachenden Gedanken sind zusammengenommen das Problem. Wären wir in der Lage, den Konflikt – und nur ihn – zu sehen, würde ein Problem gar nicht erst auftauchen.

5. Wir denken, Konflikte müssten gelöst werden.

In Wahrheit wollen sie verstanden werden. Und das hat zunächst ausschließlich mit Zuhören zu tun – und nicht mit der Suche nach (technischen oder strukturellen) Lösungen.

6. Wir haben keinen Standpunkt – wir sind der Standpunkt.

Wir sind so stark mit unserer Meinung, unserem Standpunkt identifiziert, dass wir alles, was wir als Kritik an diesem Standpunkt wahrnehmen, (unbewusst) als Angriff auf unsere ganze Person werten.
Tatsächlich bin ich nicht, was ich denke! Viel mehr ist da ein Gedanke …, und noch einer …, und noch einer. Und dann ist da der Raum, in dem der Gedanke auftaucht; und das Bewusstsein, das ihn bemerkt.

7. Wir verwechseln den Konflikt mit seinem gewaltvollen Ausdruck.

Weil wir nicht gelernt haben, auf eine lebensbereichernde Art mit Konflikten umzugehen, werden viele Konflikte begleitet von körperlicher oder psychischer Gewalt, von wild erscheinenden Gesten und lauten Stimmen. Wenn das geschieht, fällt es uns sehr schwer, diesen „gewaltvollen“ Ausdruck von dem zu unterscheiden, was tatsächlich Auslöser des Konflikts ist. Von der Frage, worauf die auslösende Situation deutet, ganz zu schweigen.

8. Wir denken, unserem Gegenüber zu sagen, was mit ihm nicht stimmt, sei aufrichtig.

Aufrichtigkeit bedeutet viel mehr, unserem Gegenüber zu sagen, was das, was ich an ihm beobachte, in mir auslöst. Das ist etwas völlig anderes, als unserem Gegenüber zu sagen, was er/sie „falsch“ macht.

9. Wir denken, unserem schmerzhaften Gefühl lautstark Ausdruck zu verschaffen, sei authentisch.

Für mich gibt es zwei Arten von Authentizität. Die eine agiert unsere Emotionen blind aus; das ist das, was wir zumeist tun. Die andere Art der Authentizität ist achtsam und bestrebt, unser höheres Selbst zum Ausdruck zu bringen: Wir sind präsent in dem, was wir gerade denken und fühlen und bringen nach außen, dass da Gefühle sind, wie sie sich bemerkbar machen (und gegebenenfalls, wo) und was die auslösende Situation ist. Wir erkennen, dass wir möglicherweise gerade wollen, dass unser Gegenüber tut, was wir sagen. zugleich realisieren wir, dass das nur ein Gedanke ist. Unser Leiden endet in dem Augenblick, in dem wir diesen Gedanken loslassen können.

10. Wir denken, die einzige Möglichkeit, Macht zu zeigen (mächtig zu sein) bestünde darin, anderen unseren Willen aufzuzwingen.

Anderen sagen zu können, wie sie sich verhalten sollen, erscheint uns weitestgehend als der einzige Ausdruck von Macht. Doch Macht, die darauf beschränkt ist, ist nicht mehr als eine Strategie, um das Gegenteil zu verstecken: Machtlosigkeit.
Mächtig zu sein bedeutet viel mehr, andere zu ermächtigen.
„Der beste Meister ist nicht der mit den meisten Schülern, sondern jener, der die meisten Meister hervorbringt.“ (Neale Donald Walsch)

11. Wir denken, wir könnten (müssten, sollten …) andere Menschen dazu bringen, sich zu ändern.

Wir können Menschen nicht willentlich ändern (zumindest nicht, ohne dafür mit Krieg zu bezahlen). Der einzige Weg ist, alles, was wir erleben, auf eine andere Art als die gewohnte zu sehen. Wir sind eingeladen, unser persönliches Bewertungssystem auf den Kopf zu stellen: von Mangel auf Fülle. Und wir sind eingeladen überhaupt erst zu realisieren, dass unser Bewertungssystem nichts weiter ist, als eine Ansammlung von Gedanken. Geschichten, die uns Welt und Leben erklären sollen.
Die Frage ist viel mehr: Was können wir dazu beitragen, dass Menschen aus dem Herzen agieren und die Dinge, die sie tun, freiwillig tun. In unserem Ärger darüber, was andere tun oder unterlassen, vergessen wir all zu oft, dass es nicht darum geht, was wir von unserem Gegenüber bekommen, sondern darum, was wir der Welt geben wollen.

12. Wir denken, die Urteile, die andere oder wir selbst über uns äußern (oder denken), sind wahr.

Urteile und Bewertungen, die andere über uns denken oder sagen, sind Ausdruck einer tiefen Sehnsucht dieser Menschen. Das gilt umgekehrt natürlich ebenso für unser Urteile über andere oder uns selbst. Wenn wir also über jemanden etwas Urteilendes sagen, erzählen wir mehr über uns selbst, als über den Menschen, über den wir sprechen.
In einem nächsten Schritt, wenn wir das Leid anderer als unser eigenes Leid verinnerlicht haben, können wir die Worte des anderen als Möglichkeit für unsere eigene Entwicklung nehmen. Voraussetzung dafür ist, dass wir das, was andere über uns sagen, nicht mehr als persönlichen Angriff sehen.

13. Wir denken, wir müssten uns schützen und dürften nichts wesentliches preisgeben.

Das Gegenteil ist der Fall. Das, „was ich mich nicht traue zu sagen, enthält den Schlüssel zur Auflösung der (Konflikt-)Situation.“ (Ich weiß gerade nicht, von wem dieses Zitat stammt.)

14. Wir denken, dass das, was wir tun oder haben (wollen) auch das ist, was wir brauchen.

Wir halten unsere Strategien für unsere Bedürfnisse. Wir denken, dieser Job, dieses Auto, diese oder jene Sache ist das, was ich gerade brauche – und damit mein Bedürfnis. Tatsächlich sind all das lediglich Strategien, mittels derer wir uns unsere Bedürfnisse erfüllen können. Bedürfnisse sind keine Dinge oder Handlungen; es ist unsere Sehnsucht, die uns die Handlungen tun und die Dinge gebrauchen lässt; unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, Autonomie, Gehörtwerden oder danach, etwas beizutragen … Es gibt einen Unterschied zwischen unseren Bedürfnissen und den Strategien, mit denen wir versuchen, sie zu erfüllen. Ist uns dieser Unterschied nicht bewusst, kann das Leid auslösen.

15. Wir denken, wir hätten Angst vor der Reaktion unseres Gegenübers.

Tatsächlich haben wir Angst davor, dass wir nicht wissen, wie wir mit der Reaktion unseres Gegenübers umgehen können.

16. Wir denken, Verstehen und Einverstandensein seien dasselbe.

Wir sind in der Lage dazu, einem Menschen mitfühlend zu begegnen, ohne mit seinem Tun einverstanden zu sein oder seine Meinung zu teilen. Der persische Mystiker Rumi fasst das zusammen: „Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“ Sicherlich bedarf das einiger Übung.

17. Wir denken, es gibt ausschließlich „entweder-oder“.

Gestern war meine Gegenüber mein Freund – heute will ich mit ihm nichts mehr zu tun haben. Für uns sind Situationen und Menschen entweder so – oder so. Dabei scheint mir das eine eher unnatürliche Unterscheidung zu sein. Denn das, was wir Leben nennen, trägt doch alles in sich. Warum sollen wir es also nicht tragen können? Leben ist mehr ein „und“, als ein „entweder-oder“. Heute löst mein Gegenüber Traurigkeit in mir aus, morgen trägt er/sie zur Freude bei. Es ist immer alles.

18. Wir denken, dass es anders sein sollte, als es gerade ist.

„Die Idee ist uns wichtiger als die Wirklichkeit; was wir sein sollten, liegt uns mehr am Herzen, als was wir sind. (…) Unser Streben ist ständig darauf gerichtet, die Wirklichkeit in die Schablone unserer Vorstellung zu pressen. Da uns dies nicht gelingt, schaffen wir dadurch einen Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Was sein sollte, ist unsere Idee, die Schöpfung unserer Phantasie, es kommt also zum Konflikt zwischen Illusion und Wirklichkeit – nicht nach außen hin, sondern in uns selbst.“ (Jiddu Krishnamurti)2

19. Wir verwechseln Tun mit Sein

Wir verwechseln das, was mein Gegenüber tut oder sagt mit unserem Gegenüber selbst (mit dem Selbst unseres Gegenübers). Unser Verhalten ist bisweilen ‚fehlerhaft‘ (immer bezogen auf einen spezifischen Referenzpunkt). Wir selbst (in der Essenz unseres Seins) sind hingegen völlig makellos. Und daher ist es unser Gegenüber auch.

Diese Liste erhebt weder in Bezug auf die Anzahl der Punkte, noch auf die Formulierung einen Anspruch auf Vollständigkeit. Was hier steht, ist sehr im Prozess.

Einige Begriffe – bspw. „Strategie“ und „Bedürfnis“ – sind dem Kommunikationsmodell der „Gewaltfreie Kommunikation“ (nach Marshall B. Rosenberg) entnommen und werden auch in diesem Sinne verstanden.

Niemand von uns ist eine Insel. Marshall Rosenberg, Klaus Karstädt, Dominic Barter, Thomas Hübl, Neale Donald Walsch, Jiddu Krishnamurti, Gundi & Frank Gaschler und noch viele anderen, deren Namen ich gerade nicht erinnere … Vielen Dank für Eure Inspiration.


  1. Oder auch ‚gut‘. Das würden wir dann allerdings nicht als Konflikt bezeichnen. Für den Gedanken, dass es einen Unterschied zwischen Ursache und Auslöser gibt, spielt das allerdings keine Rolle. ↩︎
  2. http://www.jkrishnamurti.de/KL1_37.717.0.html ↩︎

Anmerkung zu Wikipedia-Zitaten
Mir ist bewusst, dass Wikipedia im wissenschaftlichen Kontext nicht als zitierbare Quelle betrachtet wird. Wenn auch ich wissenschaftliche Vorgehensweisen schätze und gerne anwende, so ich das für sinnvoll halte, möchte ich mich ihrem Diktat doch nicht gänzlich unterwerfen. In diesem Zusammenhang ist Wikipedia für mich durchaus eine akzeptable Quelle – allerdings nur in Bezug auf Wiki-Artikel, die nicht politisch oder ideologisch aufgeladen sind, bzw. hinter denen sich keine finanzielle Interessengruppen vermuten lassen. Leider hat Wikipedia hier in den letzten Jahren einen verwerflichen Ruf aufgebaut, indem entsprechende Artikel keine Fakten wiedergeben, sondern zur Denunziation von Menschen und zur (geo)politischen Agendabildung benutzt werden. Von dieser „dunklen Seite der Wikipedia“ distanziere ich mich mit aller Deutlichkeit.

Version 1.1 (Version 1.0 wurde am 10.08.2012 veröffentlicht)

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