Gott spricht nicht über Dinge, die fehlen

„Der Teufel entlädt seine Stoffwechselendprodukte immer auf den größten Haufen“, weiß der Volksmund und meint damit, dass reiche Menschen immer reicher werden, ohne dass sie dafür ein ‚Mehr an Arbeit‘1 entrichten müssten. Reichtum, ab einer gewissen Größenordnung, vergrößert sich allem Anschein nach, auch in den größten Krisen, von selbst.2

Doch der Umstand, dass sich Haben zu Haben gesellt, bezieht sich nicht nur auf materielle Güter oder Geld. Außerdem ist es etwas verkürzt gedacht, dieses Phänomen ausschließlich dem Teufel anzulasten und damit den gesamten Aspekt einer fragwürdigen Quelle zuzuschreiben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Bereits im Neue Testament wird an verschiedenen Stellen auf diesen Effekt hingewiesen:

„Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“3

In Anlehnung an den vermuteten Archivar dieser Zeilen, wird dieses Phänomen auch „Matthäus-Effekt“ genannt4. Interessant ist, dass die Wiederentdeckung dieses Effekts in neuester Zeit nicht, wie ich zunächst vermutet habe, einem spirituellen oder esoterischen Zusammenhang entspringt, sondern einem klassisch wissenschaftlichen. 1968 formulierte der amerikanische Soziologe Robert K. Merton den Matthäus-Effekt im Rahmen einer soziologischen Arbeit, in der er die Häufigkeit untersuchte, mit der wissenschaftliche Publikationen zitiert wurden. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass bekannte Autoren häufiger zitiert wurden, als weniger bekannte, was ihren Bekanntheitsgrad wiederum steigerte und so zu einem weiteren Anstieg ihrer Zitier-Rate führte.5

Entsprechung auf allen Ebenen

Dasselbe Phänomen ist in esoterischen Kreisen als „Gesetz der Anziehung“ bekannt.6 Von der Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky – einer der Begründerinnen der Theosophischen Gesellschaft – zum Ende des 19. Jahrhunderts ins Spiel gebracht, wurde es zuletzt durch den Film „The Secret“ (2006) sowie das gleichlautende Buch erneut einer diesmal sehr breiten Öffentlichkeit vorgestellt.

Das „Gesetz der Anziehung“ besagt, dass Gleiches Gleiches anzieht (der Matthäus-Effekt formuliert hier: Erfolg zieht Erfolg nach sich). Im esoterisch-psychischen Zusammenhang bezieht sich das „Resonanzgesetz“, wie das Gesetz der Anziehung auch genannt wird, vor allem auf den Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen auf der einen (Innen)Seite sowie der Umwelt, der Lebenssituation des Individuums, auf der anderen (Außen)Seite. Innerer Reichtum zieht demnach äußeren Reichtum nach sich; innere Armut bedingt, dieser Gesetzmäßigkeit folgend, äußere.7 Interessanterweise zieht äußerer Reichtum nicht zwangsläufig, wie der Umkehrschluss vermuten ließe, inneren Reichtum an, sondern lediglich wieder äußeren.

In wirtschaftlichen Zusammenhängen beschreibt z. B. Christian Felber den Matthäus-Effekt als „Gesetz des sinkenden Aneignungswiderstandes“, durch den sich die Schere der Ungleichheit zwischen Arm und Reich quasi von selbst weiter öffnet.8 Materieller Reichtum vermehrt sich von selbst, ohne dass der Besitzer viel dafür tun müsste. Genau genommen müssten sehr reiche Menschen mehr Aufwand betreiben, wollten sie ihr Reicherwerden verhindern oder ihr Vermögen auch nur auf dem aktuellen Stand halten.9 Der Hauptgrund für diesen Tatbestand liegt im exponentiellen Anwachsen von Vermögen in einem auf Zinseszins fußenden Geldsystem. Bei kleinen Summen hält sich das Ergebnis exponentiellen Wachstums noch eine Weile in überschaubaren Grenzen, doch große bis sehr große Vermögen wachsen durch die Kapitalisierung des Zinses, also das miteinrechnen der Zinsen in die weitere Verzinsung, innhalb kürzester Zeit ins nahezu unermessliche.10

Auch systemtheoretisch ist der Matthäus-Effekt bekannt. Hier wird von „positiver Rückkopplung“ oder „Mitkopplung“ gesprochen. Innerhalb von (biologischen, technischen, wirtschaftlichen etc.) Systemen wirkt sich eine Größe verstärkend auf sich selbst aus. In der Regel führt das zum Kollaps des jeweiligen Systems, wenn die Spirale der Eskalation nicht vorher durch „negative Rückkopplung“ durchbrochen wird.11

Spätestens jetzt wird klar, dass der Matthäus-Effekt keine esoterische Erfindung ist, die sich vornehmlich, wie in „The Secret“ dargestellt, auf die Generierung von wirtschaftlichem Wohlstand beschränkt. Möglicherweise lässt sich dieses Phänomen in allen Zusammenhängen beobachten, die systemisch organisiert sind. Die Ergebnisse, die uns jedoch im Alltag am stärksten ins Auge stechen, sind beruflicher und, damit verbunden, monetärer Erfolg.12

Die Dynamik, die im Matthäus-Effekt zum Ausdruck kommt, scheint so eindeutig und wiederholbar, dass man hier leicht von einer Gesetzmäßigkeit sprechen könnte. Und in der Tat wird das, vor allem in der esoterischen Literatur, auch getan (der Begriff legt das ja ebenfalls nahe). In diesem Zusammenhang steht das „Gesetz der Anziehung“ in einer Reihe mit sechs weiteren esoterischen Gesetzen oder Prinzipien, die im „Kybalion“13, einem esoterischen Buch, das Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist, einer breiten Leserschaft bekannt gemacht wurden. Diese Prinzipien-Sammlung wird hier als „sieben hermetische Prinzipien“ bezeichnet und dem großen spirituellen Alchemisten Hermes Trismegistos und ein Jahrtausende altes ägyptisches Geheimwissen zugesprochen. 1912, nur vier Jahre nach dem Erscheinen des Kybalions, veröffentlichte Charles F. Haanel14 sein bis heute verkauftes Buch „The Master Key System“, das sich ebenfalls der schöpferischen Kraft der Gedanken und damit dem Resonanzgesetz widmet. In der jüngeren Vergangenheit sind diese Prinzipien auch als „Schicksals-“ oder „Erfolgsgesetze“ bekannt geworden.15

Konzepte, nichts als Konzepte …

So sehr mich soziologische, biologische oder wirtschaftliche Erklärungen des Matthäus-Effektes auch faszinieren, so sehr stehen sie doch gewissermaßen in der zweiten Reihe. Davor, in der ersten Reihe, eröffnet sich für mich ein Ansatz, den ich als ‚spirituell‘ bezeichnen möchte. Dieser Ansatz stellt die Grundlage für alle anderen Erklärungen dar. Auf der Basis unseres Alltagsbewusstseins ist diese Behauptung keine Selbstverständlichkeit, denn auf einer Konzept-Ebene – und unser Alltagsbewusstsein wird dominiert von Konzepten16 – stellt eine ‚spirituell’ genannte Betrachtungsweise per se keine übergeordnete Erklär-Möglichkeit, kein Meta-Modell dar. Vielmehr steht sie in einer Linie mit allen möglichen Versuchen, im Innen wie im Außen beobachtete Phänomene einzuordnen. Das wird auch dadurch noch erschwert, als dass der Versuch einer Verständigung über unsere Beobachtungen weitestgehend auf verbale Kommunikation angewiesen ist, die sich naturgegeben immer als Konzept offenbart.17 Verbale Kommunikation, die auf eine dahinterliegende (spirituelle) Wirklichkeit zeigt – oder sogar aus ihr spricht – und dabei nicht von vorne herein (vom Sprecher, wie vom Hörer) als Konzept gesehen wird, wird systematisch möglicherweise nur von Menschen produziert und verstanden, die sich (absichtsvoll oder unabsichtlich) dieser Dimension (der Konzeptlosigkeit) öffnen. So darf also mit eingerechnet werden, dass Worte einerseits ein Konzept, einen Standpunkt vertreten und zugleich auch einer dahinterliegenden spirituellen An-Bindung (oder Rück-Bindung)18 entspringen können.

Fülle oder Mangel

Wir Menschen neigen dazu, in der Welt Fülle und Mangel zu sehen und uns entsprechend zu verhalten. Wir wollen in der Regel mehr dessen, was wir für erstrebenswert halten und weniger dessen, was wir als das Gegenteil ansehen. Doch wenn wir uns dieses Denken über Fülle und Mangel, Erfolg und Misserfolg, über (materiellen) Reichtum und Armut genauer anschauen, fällt auf, dass auch das Konzepte sind. Wir meinen zwar eine inhärente, quasi eingeborene Priorität zu erkennen – Geld zu haben scheint in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen bspw. immer besser zu sein, als keines zu haben –, aber auch dieser Gedanke ist zunächst nicht mehr als das: Ein Gedanke, ein Konzept, einen Idee, die ich auf mein persönliches Leben anwende. Augenscheinlich zeigt bereits alleine der Umstand Wirkung, dass ich diesem Gedanken uneingeschränkt und blind Glauben schenke. Dass Ideen uns in einem so machtvollen Griff halten, scheint mir denn auch genau diesem Umstand geschuldet: Wir hinterfragen sie nicht. Und wir hinterfragen sie deshalb nicht, weil sie gesellschaftsweit von den allermeisten Menschen für wahr gehalten werden; sie werden ‚gelebt‘ und sind daher unbewusst, unsichtbar und unantastbar. Diese Gedanken werden zu einem verteidigungswürdigen Standpunkt und sind so immanent, dass wir nicht im Entferntesten darauf kommen, sie anzuzweifeln. Wir sind hier tatsächlich blind. Der Begriff ‚Standpunkt‘ benennt diesen Umstand sehr gut: Der Punkt auf dem ich stehe, ist jener Punkt, den ich nicht mehr sehen kann, da ich ihn ja mit meinen Körper verdecke.

Haben und Nichthaben weisen dieselbe Qualität auf – beides sind Gedanken. Aus dieser Perspektive sind sie weder erstrebens-, noch ablehnenswert. Mehr noch, auf dieser Ebene sind beide dasselbe. Sie stellen unterschiedliche Ausdrücke dar, unterschiedliche Aspekte – zugleich sie sind von ihrer Qualität her identisch.

Nichts, das es nicht gibt, ist wirklich

Weil wir diese Qualität nicht erkennen, denken wir, Nichthaben sei das Fehlen von etwas. Dieser Blickwinkel ist bestimmend für unser Denken und damit für die augenblickliche Beschaffenheit unserer Welt.

‚Fehlen‘ ist zutiefst relativ. Es bedeutet: Da fehlt etwas in Bezug auf etwas. Ist beispielsweise etwas für uns hässlich, fehlt etwas, damit wir es schön nennen können. Ist jemand arm, fehlt etwas, um ihn reich zu nennen usw. Daraus ergeben sich Dichotomien: stark – schwach, schön – hässlich, reich – arm … Wir wählen eine der beiden Seiten und begreifen die andere Seite als Mangel. Hässlichkeit ist dann das Fehlen von Schönheit usw.

Doch etwas, das fehlt, ist nicht existent, es ist eine theoretische Kategorie, die wir allem, was wir als existent, als seiend wahrnehmen, hinzufügen, um Entscheidungen zu treffen (oder sie zu rechtfertigen). Sie hat keine eigene Qualität. Der hauptsächliche Grund dafür, dass wir dem Fehlenden solche Relevanz zubilligen, ist wahrscheinlich dem Primat des Materiellen19 geschuldet. Wir leben in einer Welt, in der mit unseren fünf Sinnen erfahrbare Materie die vordergründigste Wirkung auf uns ausübt. Zu jeder Zeit sind wir umgeben von ‚Dingen’, die riechen, schmecken, sich anfühlen etc. Selbst subtilere Momente, wie Freude oder Traurigkeit binden wir an Materie, beispielsweise an Menschen, die in diesem Weltbild Dinge sind. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ‚Die Welt’ aus ‚Dingen‘ besteht, die mit diesen Sinnen erfahrbar sind. Unser Festhalten an Materie macht es uns leicht, etwas wahrzunehmen, dass, sobald wir es nicht mehr wahrnehmen können, als fehlend beschrieben wird. Und obwohl wir bisweilen durchaus – wie zwischen den Zeilen – realisieren, dass auch Nichtmaterielles (nicht mit unseren fünf Sinnen Erfahrbares) ‚vorhanden‘ ist (oder zumindest sein könnte), neigen wir entweder dazu, es zu ignorieren oder Nichtmaterielles mit unseren Erfahrungen von Materie zu beschreiben. Wir extrapolieren unsere sinnlichen (und damit sinn-vollen) Erfahrungen auf einen Bereich, der mit diesen Sinnen nicht (oder nur eingeschränkt) erfahrbar ist.20 Auf der Basis dieser Interpolationen beschreiben wir Fehlendes, Nichtexistentes, als wäre es (in einem physikalischen Sinne) Existent.

Gott spricht nicht über Dinge, die fehlen

Unser Blick auf Fehlendes betont Nichtexistentes. Kein Geld zu haben ist, diesem Gedanken folgend, nicht etwa das Fehlen von Geld, sondern das ‚Haben‘ einer Erfahrung, die wir ‚arm‘ nennen. Ebenso, wie Geld zu haben eine Erfahrung ist, die wir ‚reich‘ nennen. Es ‚gibt‘ demnach nur ‚Haben’ und nicht ‚Nichthaben‘. Wenn nichts, das es nicht gibt, existiert, und im Umkehrschluss nur existiert, was es gibt, dann ist Armut nicht das Fehlen von Geld, sondern das Haben einer Erfahrung, die wir Mangel nennen. Und diese Erfahrung vermehrt sich von selbst, ebenso, wie sich die Erfahrung von Fülle von selbst vermehrt. „Wer hat, dem wird gegeben (…).“ Leben ist Geben. Was wir geben/haben – danach werden wir nicht gefragt. Aus der Perspektive des Lebens spielt es keine Rolle, ob ich Schulden im Überfluss habe, während mein Nachbar Geld im Überfluss hat. Das erscheint auf den ersten Blick möglicherweise unfair oder beliebig. Doch ein zweiter Blick kann hier für Klarheit sorgen: Die Frage, ob Haben oder Nichthaben eine Bedeutung zukommt, stellen wir nur in einem Kontext, der sich um unser eigenes Wohlergehen dreht. Aus dieser egozentrierten Sichtweise heraus produzieren wir, zumeist unbewusst, Ereignisse, die Wirkungen nach sich ziehen, denen wir ebenso unbewusst gegenüberstehen. Indem wir diese Wirkungen zu Ursachen umdeuten, ‚müssen’ wir darauf erneut (unbewusst) reagieren usw. Der Kreis unseres unbewussten Schaffens schließt sich. Wir ‚er-leben‘ ständig Wirkungen, die uns gefallen (Haben) und solche, die uns missfallen (Nichthaben). Beliebig erscheinen uns diese ‚Ergebnisse‘ lediglich, weil wir nicht wissen, was wir tun.

Leider vermute ich, dass auch eine Weitung unseres egozentrierten Blicks in Richtung einer ethnozentrierten oder gar weltzentrierten Perspektive, diesem Aspekt bestenfalls marginal entgegenwirkt. Denn immer noch denken wir beinahe ausschließlich an unser individuelles, persönliches Leben – nun jedoch im Zusammenhang einer kulturellen Zugehörigkeit. Oder wir denken an unsere Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, die gemeinsam einen Planeten bewohnt. Letzteres könnte ein Übergang zu einem größeren Wahrnehmungshorizont sein – doch letztlich erscheint mir auch dieser Tellerrand noch zu nah, zu materiell, zu berechenbar, zu ‚augenscheinlich‘ …

An einer Perspektive, die ausschließlich das eigene Wohl fokussiert (oder das meiner Familie, meiner Ethnie, meines Landes, meiner Spezies etc.), ist nichts falsch. Sie ist schlicht eingeschränkt. Doch diese Perspektive kann sich radikal verändern, wenn wir größer denken. Und sie transformiert sich gänzlich, wenn wir über das Denken als einzigen angenommenen Erkenntniszugang hinausgehen (ich komme später darauf zurück).

Das eigene Wohl wird durch diese Weitung nicht unwichtig, aber es reiht sich ein in einen Gesamtzusammenhang. In einem größeren Denk-Kontext hören wir auf, über Haben und Nichthaben in Kategorien wie ‚richtig‘ oder ‚falsch’ zu urteilen. Oder besser: Wir hören auf, diese Urteile absolut zu setzen. Wir können erkennen, dass Leben, nur eine Spur größer gedacht als ‚Mein persönliches, individuelles Leben‘, nicht urteilt. Fülle oder Mangel existieren hier schon nicht mehr, weil schlicht das eine nicht bedeutungsvoller ist, als das andere. Was existiert, ist das, was sich ereignet. Leben als universaler Prozess ist immer und an jedem Punkt des Prozesses vollständig. Es gibt keinen Augenblick, in dem Leben sagen würde: „Hier fehlt noch etwas.“ Gott kann also gar nicht über Fehlendes sprechen, es entspricht nicht seiner (göttlichen) Natur. Der Grund ist so einfach, wie bestechend: Leben an sich hat kein Gegenteil, keine andere Seite (mit der es verglichen werden könnte). Selbst das, was wir ‚Tod‘ nennen, widerspricht dieser Tatsache nicht.

Leben hat kein Gegenteil

“Wenn der Tod für irgendetwas wirklich ist, gibt es kein Leben. Der Tod leugnet das Leben. Doch wenn es Wirklichkeit im Leben gibt, dann wird der Tod geleugnet. Hierin ist kein Kompromiss möglich. Es gibt entweder einen Gott der Angst oder einen der Liebe. Die Welt versucht sich in tausend Kompromissen und wird tausend weitere versuchen. Kein einziger kann für Gottes Lehrer akzeptabel sein, weil kein einziger für Gott akzeptabel sein könnte. Er hat den Tod nicht gemacht, weil er auch die Angst nicht machte. Beide sind für ihn gleichermaßen bedeutungslos.“21

Individuell betrachtet erscheint uns der Tod als das Fehlen von Leben. Und natürlich erleben wir beispielsweise den Tod eines nahestehenden Menschen als ein Fehlen, als Verlust, als Lücke. Doch besonders hier zeigt sich erneut: Leben nur als ‚Du lebst‘ oder ‚Ich lebe‘ zu verstehen, greift zu kurz und offenbart einmal mehr die Tragik unseres unbedingten Glaubens an eine Trennung des Menschen von Leben als universalem Prinzip, die wir jeden Tag aufs Neue (unbewusst) kreieren und als Folge dessen wir erst zu dem Schluss kommen, es würde etwas fehlen. Der individuelle Tod ist kein Makel des Lebens, und er ist auch nicht das Gegenteil von Leben – ebenso wenig, wie Leben das Gegenteil von Geburt ist. Beides sind Aspekte desselben Wirkens.

„Ist es nicht Verrücktheit, vom Leben zu denken, dass es geboren wird, altert, seine Vitalität verliert und am Ende stirbt?“22

Durch körperliches Sterben kommt nicht der gesamte, universale Prozess zum Erliegen. Im Gegenteil, wenn wir die Jahreszeiten betrachten, fällt uns ihr zyklischer Charakter auf und wir erhaschen vielleicht eine Ahnung davon, dass das, was sich vor unseren Augen im Kleinen abspielt, auch ein charakterisierendes Merkmal des größeren Zusammenhanges sein könnte: „Wie oben, so unten.“ – Wie im Kleinen, so im Großen.

Wortlos, Gesetzlos, Still

Doch auch diese Metapher greift letztlich (wahrscheinlich) zu kurz und stellt nur einen weiteren Versuch dar, etwas zu beschreiben, das unser Verstand alleine nicht greifen kann. Etwas, das uns wortlos und damit konzeptlos zurücklässt. Wenn wir den Gedanken dieses Prozesses, dieses immerwährenden, bedingungslosen, absoluten und radikalen Lebens ernst nehmen, kommen wir an einen Punkt, an dem alles zusammenfällt; in einem umfassenden Sinn fällt alles auf einen einzigen Punkt zurück (oder hin). Vielleicht ist das der ursprüngliche Gedanke hinter unseren Religionen.23 Und vielleicht ist dieses ‚Zusammenfallen‘ gemeint, wenn verschiedene spirituelle Traditionen von unserer sinnlich erfahrbaren Welt, wie groß sie sich auch immer für uns darstellen mag, als Illusion sprechen.24

„(…) ich will annehmen, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Tone und alles Aeusserliche nur das Spiel von Träumen ist (…).25

Illusion. Konzeptlosigkeit. Sprachlosigkeit. Die mystischen Traditionen sämtlicher spiritueller Richtungen bringen es auf den Punkt: Wo Worte enden, stellt sich Schweigen ein. Dies ist nicht allein eine logische Konsequenz, es ist eine immanente, eine allumfassende, die dem Herzen entspringt und sich dem Verstand offenbart.

„Soll Gott sprechen, so musst du schweigen, soll Gott eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“26

Wenn ‚am Ende‘ alles Illusion ist, trotzdem wir es täglich anders wahr-nehmen und jede Idee von Werden und Vergehen Teil der Trennung ist, die wir aufgebaut haben und jeden Moment aufs Neue kultivieren, kommen wir an einen Punkt, der sich den meisten Menschen als Grenze der Vorstellungskraft entgegenstellt.

Es gibt da eine Unsicherheit, die keine wissenschaftliche oder physikalische, sondern eine radikale ist. Ich halte es für absolut undenkbar, dass man dafür irgendwann eine Lösung findet. Denn die Welt ist nicht geschaffen worden, damit man sie versteht. Sie schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, um nicht verstanden zu werden. Die Erkenntnis ist zwar Teil der Welt, aber nur als totale Illusion. Genau das finde ich interessant, denn es bedeutet, dass das Denken nur Teil eines Ganzen ist, und dass es für dieses Ganze keine Interpretation gibt. Zwar gibt es im Innern dieser Welt durchaus ein Erkenntnis- und Denksystem, das so etwas wie Wahrheits- und Wirklichkeitseffekte produziert. Aber ich finde es wichtig, dass die Philosophie diese radikale Unsicherheit und Illusion immer im Hinterkopf hat. Man muss sich vor der Wahrheit hüten (lacht).27

Gott spricht nicht über Dinge, die fehlen. Weil nichts fehlt, hat eine Trennung in Wirklichkeit niemals stattgefunden.

Schweigen.

Wachen wir also auf.


  1. Nebenbei: Eine solche Aussage setzt voraus, dass Arbeit und Geld aneinander gekoppelt sind – mehr noch, dass sie auf eine Art aneinander gekoppelt sind, in der Arbeit Geld generiert. Diese leistungsbezogenen Sichtweise ist die herrschende und sie wird von den wenigsten Menschen in Zweifel gezogen. Das allein schon wäre Grund genug, dieses Paradigma zu hinterfragen. Darauf möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht eingehen. ↩︎
  2. Belegen. Namen.
    Eine persönliche Anekdote ist diese: Vor wenigen Wochen begegnete ich einem Mann, der als Innenausstatter die Wohnungen und Häuser wohlhabender Menschen einrichtet. Er erzählte mir, dass sich das Vermögen einer seiner Kunden, den er als einen der zehn reichsten Menschen des Landes bezeichnete, in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren von vier auf sieben Milliarden Euro vergrößert habe, ohne dass er persönlich etwas dazu beigetragen hätte, das wir mit dem Wort ‚Arbeit‘ in Verbindung bringen würden.
  3. Die Bibel, Mt 25,29 (entsprechend auch: Mt 13,12; Mk 4,25; Lk 8,18) ↩︎
  4. In Wissenschaftskreisen wird synonym auch von „Winner-take-all-Prozessen“ gesprochen (siehe bspw.: Mark Lutter, Soziale Strukturen des Erfolgs, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, 2012, 10.10.2015). ↩︎
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Matth%C3%A4us-Effekt (10.10.2015) ↩︎
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_der_Anziehung (10.10.2015) ↩︎
  7. Mit ist bewusst, dass ich die Antwort auf die Frage danach, was denn nun genau mit ‚innerer Armut’ und ‚innerem Reichtum‘ gemeint ist, schuldig bleibe. Die Leserin/der Leser mag sich, bis ich eine für mich befriedigende Definition nachgetragen habe, auf die eigene stützen. ↩︎
  8. Christian Felber, Neue Werte für die Wirtschaft, Deuticke Verlag, Wien, 2008 (bspw. in Kap. 1) ↩︎
  9. Christian Felber … (Die exakte Quelle finde ich gerade nicht.) ↩︎
  10. Unser Geldsystem und der mit ihm verbundene Zinseszins böten Stoff für einen eigenen Beitrag. Doch hier möchte ich es bei dieser Randbemerkung belassen. ↩︎
  11. https://de.wikipedia.org/wiki/Positive_R%C3%BCckkopplung (18.10.2015) ↩︎
  12. Robert Faulkner und Andy B. Anderson berichten bspw., dass zwischen 1965 und 1980 sieben Prozent der Regisseure in Hollywood 40 Prozent aller Spielfilme drehten (S. 894 u., 10.10.2015). ↩︎
  13. Vgl. Kybalion – Eine Studie über die hermetische Philosophie des alten Ägypten und Griechenlands, EDIS Verlag, Sauerlach bei München, 1997 (S. 29, 69ff).
    Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Kybalion (11.10.2015)
  14. https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_F._Haanel (22.10.2015) ↩︎
  15. Bspw. durch die Veröffentlichungen von Rüdiger Dahlke, Deepak Chopra, Kurt Tepperwein etc. ↩︎
  16. ‚Conceptus‘, dem Lateinischen entlehnt, bedeutet so viel, wie: Zusammenfassen, Gedanke, Vorsatz (Duden, Herkunftswörterbuch, 4. Auflage, S. 441). Ein ‚Konzept’ ist demnach eine Vorstellungen davon, wie die persönlich erlebte Wirklichkeit beschaffen ist. ↩︎
  17. Im Text Es waren zwei Königskinder (11.01.22) gehe ich etwas näher auf diesen Aspekt ein.
    Möglicherweise gibt es Ausnahmen, also verbale Kommunikation, die keinen konzepthaften Charakter mitbringt. Vielleicht kann das Gebet eine solche Ausnahme sein. Da jedoch zuletzt der Hörer und nicht der Sprecher über den Sinn einer Nachricht entscheidet, bin ich unsicher, ob Konzeptfreiheit systematisch hergestellt werden kann – zumindest, was Dialoge angehen, die unserem Alltagsbewusstsein entspringen. Anders könnte das Aussehen, wenn sich Menschen in einem echten Ich–Du begegnen, wie es Martin Buber beschreibt (Martin Buber, Ich und Du, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1974; der Text Die Sehnsucht des Verliebten (11.01.22) geht oberflächlich darauf ein).
  18. Siehe dazu auch Fußnote 24. ↩︎
  19. „Materiell“ wird hier als Ausdruck des Physikalischen gebraucht und transportiert keinerlei moralische Bewertung. ↩︎
  20. Erst durch Hinzufügen eines sogenannten sechsten Sinns scheinen wir Materie-Strukturen ‚überwinden‘ zu können. Vielleicht ist es auch hier kein Entweder/Oder, kein ‚diese Sinne sind für diese Welt, jene für jene Welt‘. Vielleicht spielen sie sich ihre Reizungen gegenseitig zu? Vielleicht können wir das Universum nur spüren, weil wir auch den Wind auf der Haut spüren können.
    Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Sinn_%28Wahrnehmung%29 (24.11.2015) ↩︎
  21. Ein Kurs in Wundern, Greuthof Verlag, 8. überarb. Aufl., 2008, Handbuch für Lehrer, S. 66f ↩︎
  22. Ein Kurs in Wundern, Greuthof Verlag, 8. überarb. Aufl., 2008, Handbuch für Lehrer, S. 66 ↩︎
  23. Das lateinische „re-ligare“ wird vor allem in der christlichen Theologie als „Zurück-Bindung“ verstanden. Diese Deutung ist nicht unzweifelhaft aber durchaus naheliegend (Duden, Herkunftswörterbuch, 4. Auflage, S. 667f). ↩︎
  24. Der Buddhismus lehrte bspw., „dass die Illusion einer unabhängigen Existenz aus zwei Aspekten besteht: aus der Ich-Illusion und der Illusion in Bezug auf die äußere Welt. Löst man die Ich-Illusion auf, so bedeutet dies die Befreiung von allem Leid. Beseitigt man die Illusion in Bezug auf die äußere Welt, so erlangt man die volle Erleuchtung, den Zustand der Allwissenheit eines Buddhas.“ (04.11.2015) ↩︎
  25. René Descartes’ Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, in welchen das Dasein Gottes und der Unterschied der menschlichen Seele von ihrem Körper bewiesen wird. (03.11.2015) ↩︎
  26. Johannes Tauler, zitiert nach: Gerhard Wehr, Mystische Centurien: Eine Anthologie für das innere Leben, Verlag opus magnum, 2012, S. 215
    Dieses ‚Freimachen‘ wird im Zen-Buddhismus häufig in das Gleichnis der vollen Teetasse gekleidet: „Ein Professor wanderte weit in die Berge, um einen berühmten Zen-Mönch zu besuchen. Als der Professor ihn gefunden hatte, stellte er sich höflich vor, nannte alle seine akademischen Titel und bat um Belehrung. ‘Möchten Sie Tee?’ fragte der Mönch. ‚Ja, gern’, sagte der Professor. Der alte Mönch schenkte Tee ein. Die Tasse war voll, aber der Mönch schenkte weiter ein, bis der Tee überfloß und über den Tisch auf den Boden tropfte. ‘Genug’, rief der Professor. ‚Sehen Sie nicht, daß die Tasse schon voll ist? Es geht nichts mehr hinein.’ Der Mönch antwortete: ‚Genau wie diese Tasse sind auch Sie voll von Ihrem Wissen und Ihren Vorurteilen. Um Neues zu lernen, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren.‘“ (Ich kann mich leider nicht erinnern, wo ich dieses Gleichnis gelesen habe.)
    Der Radikalität einer Illusion all dessen, was wir bezeichnen können folgend, müsste die Tasse nicht nur leer werden – sie müsste zerbrechen.
  27. Jean Baudrillard, „Man muss sich vor der Wahrheit hüten“, Interview in der taz vom 22.11.2000 (03.11.2015) ↩︎

Anmerkung zu Wikipedia-Zitaten
Mir ist bewusst, dass Wikipedia im wissenschaftlichen Kontext nicht als zitierbare Quelle betrachtet wird. Wenn auch ich wissenschaftliche Vorgehensweisen schätze und gerne anwende, so ich das für sinnvoll halte, möchte ich mich ihrem Diktat doch nicht gänzlich unterwerfen. In diesem Zusammenhang ist Wikipedia für mich durchaus eine akzeptable Quelle – allerdings nur in Bezug auf Wiki-Artikel, die nicht politisch oder ideologisch aufgeladen sind, bzw. hinter denen sich keine finanzielle Interessengruppen vermuten lassen. Leider hat Wikipedia hier in den letzten Jahren einen verwerflichen Ruf aufgebaut, indem entsprechende Artikel keine Fakten wiedergeben, sondern zur Denunziation von Menschen und zur (geo)politischen Agendabildung benutzt werden. Von dieser „dunklen Seite der Wikipedia“ distanziere ich mich mit aller Deutlichkeit.

Version 1.1 (Version 1.0 wurde am 01.12.2015 veröffentlicht)

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